Für einen sozialdemokratischen Kapitalmarkt
Strategiepapier
Donnerstag, 18. April 2024
Die internationale Staatengemeinschaft steht vor der gemeinsamen Herausforderung, welt- weite Veränderungen wie etwa die Digitalisierung und den Klimawandel zu gestalten. In einer globalisierten Welt spielen internationale Kapitalmärkte hierbei eine immer wichtigere Rolle. Der Kapitalmarkt ist der Teil des Finanzmarktes, auf dem der mittel- und langfristige Kapital- bedarf finanziert wird. In der öffentlichen Wahrnehmung gilt der Kapitalmarkt jedoch oft als Ort kurzfristiger Renditemaximierung und riskanter Spekulationen.
Auf die Finanzkrise 2008/2009 hat die Politik mit einer stärkeren Regulierung reagiert. Auf die aktuelle dynamische Entwicklung des globalen Kapitalmarktes muss die Sozialdemokratie ebenfalls eine klare Position entwickeln. Wir stellen uns einen Kapitalmarkt vor, der am Ge- meinwohl orientiert ist und gleichzeitig Zukunftsinvestitionen finanziert – einen sozialdemo- kratischen Kapitalmarkt. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hat bereits Vor- schläge eines gewerkschaftlichen Kapitalmarkts aus dem Zweiklang von stärkerer Mitbestim- mung und einem reguliertem, auf langfristige Ziele fokussierten Kapitalmarkt entworfen. Die- ser soll langfristige Unternehmensziele finanzieren, die sich an guten Arbeitsplätzen, zukünf- tigen Innovationen und langfristigen Standortsicherungen orientieren, und die Arbeitneh- mer:innen an den Zielen sowie Erfolgen stärker beteiligen.1 Seit ihrer Gründung verfolgt die SPD das gesellschaftliche Ziel, die arbeitende Bevölkerung am finanziellen Unternehmenser- folg zu beteiligen. Ein entsprechend reformierter Kapitalmarkt wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Angesichts der Herausforderungen ist der Kapitalbedarf hoch. Das Institut für Wirtschaftsfor- schung schätzt den notwendigen Mehrinvestitionsbedarf zur Finanzierung der Klimaneutra- lität je nach Fortschritt bis 2050 auf 0,5 bis 3 Billionen Euro.2 Zum Vergleich: Das Bruttoin- landsprodukt Deutschlands betrug im Jahr 2023 ca. 4,121 Billionen Euro. Aus diesem Grund haben wir bereits in der Vergangenheit die staatliche Investitionsquote auf ein Rekordniveau gebracht und setzen uns zudem für eine Reform der Schuldenbremse ein. Dies allein wird je- doch nicht reichen. Private Investitionen machen in Deutschland ein Vier- bis Fünffaches des staatlichen Investitionsvolumens aus. Dies zeigt deutlich, dass wir die Steigerung privater In- vestitionen keinesfalls außer Acht lassen dürfen. Dafür braucht es sozialdemokratische Ideen,
die den Kapitalmarkt in Deutschland und in Europa stärken und zugleich damit der Gesellschaft dienen.
Hierzu schlagen wir als Seeheimer Kreis folgende Ideen vor:
Mit dem Deutschlandfonds wollen wir Sozialdemokrat:innen mit einer Kombination aus pri- vatem und öffentlichem Kapital wichtige Transformationsprojekte in unserem Land finanzie- ren. Der Deutschlandfonds dient als Dachfonds und institutioneller Rahmen für unterschied- liche Projekte (z. B. konkrete Infrastrukturprojekte) und wird aus öffentlichem wie privatem Kapital gespeist. Die staatlichen Einlagen sorgen im Fonds für die nötige Bonität, um für pri- vates Kapital attraktiv zu sein. Der Staat ist in zentralen Bereichen Partner und Garant für pri- vate Investitionen, insbesondere bei Infrastrukturprojekten wie dem Netzausbau oder der Energieinfrastruktur. Denn eine gute Infrastruktur dient dem Wohl unseres Landes. Wir stel- len dabei sicher, dass die staatlichen Organe die Projekte organisieren und die Chancen sowie Risiken gerecht zwischen den Partnern verteilt werden. Ein zentral verwalteter Deutschland- fonds benötigt außerdem eine Vernetzung in die regionalen Förderstrukturen, die durch die Integration der Landesförderinstitute der Bundesländer erfolgen könnte. Hierdurch könnten neue Anlageformen für Kleinanleger:innen geschaffen werden, wodurch die Bürger:innen in regionale Projekte – z. B. in eine neue Ortsumgehung oder in regionalen Ökostrom durch den Bau von Windkraftanlagen – vor der Haustür investieren, von denen sie im täglichen Leben profitieren.
Um Investitionslücken im Mittelstand zu schließen, bedarf es neben der Fremdkapitalfinan- zierung durch Banken neue Kanäle zum Kapitalmarkt, der bei der Mittelstandsfinanzierung bisher eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Mit Mezzanine-Finanzierungen, also Mischfi- nanzierungen aus Bankkrediten und dem Kapitalmarkt, kann der Deutschlandfonds mittel- ständischen Unternehmen Eigenkapital zuführen, ohne operativen Einfluss auf das jeweilige Unternehmen zu nehmen. Das erhöht die Akzeptanz im Mittelstand und macht in den jewei- ligen Unternehmen gleichzeitig eine stärkere Fremdfinanzierung möglich.
Durch ein „Chancenbudget“ bauen wir zudem bereits frühzeitig Berührungsängste vor dem Kapitalmarkt ab, indem Kinder zwischen 6 und 18 Jahren monatlich vom Staat zehn Euro in ein individuelles staatliches Fondsdepot eingezahlt bekommen. Die vom Staat gezahlten zehn Euro pro Monat können durch eigene Zuzahlungen von zum Beispiel Eltern und Großel- tern aufgestockt werden. Mit der Volljährigkeit kann das angelegte Kapital zweckgebunden zum Beispiel für Aus- und Fortbildung ausgezahlt oder kostenfrei in ein Produkt zur Altersvor- sorge übertragen werden. Besonders Kinder aus Familien mit niedrigem monatlichem Ein- kommen weisen mit 18 Jahren ein eher geringes Sparguthaben auf. Durch das „Chancen-
budget“ haben sie mit 18 Jahren einen finanziellen Grundbaustein, den sie auch für anfal- lende Kosten bei ihrer Ausbildung oder ihrem Studium nutzen können. Die Finanzierung soll über eine Reform der Abgeltungssteuer (s. u.) erfolgen.
Für die Finanzierung der Transformation brauchen wir höhere Investitionen, die auch durch die Beteiligung von Privatanleger:innen am Kapitalmarkt erfolgen muss. Dafür müssen zwei Aspekte gefördert werden, um unerfahrene Kleinanleger:innen zu motivieren: Wissen über finanzielle Zusammenhänge und finanzielle Anreize. Finanzielle Bildung spielt in nahezu jeder Lebensphase eine wichtige Rolle – bei der Steuererklärung, der Altersvorsorge oder dem Ab- schluss des ersten Kreditvertrages. Um die finanzielle Bildung zu fördern, haben das Bundes- ministerium für Bildung und Forschung sowie das Bundesministerium der Finanzen die Initi- ative „Finanzielle Bildung“ ins Leben gerufen. Finanzielle Bildung muss von staatlicher Ebene und unabhängig von privatwirtschaftlichen Interessen organisiert werden. Sie darf sich nicht nur auf schulische Angebote reduzieren, sondern muss über alle Altersklassen und Bildungs- schichten ein zeitgemäßes Bildungsangebot schaffen.
Für mehr finanzielle Anreize benötigen wir ein gerechteres Kapitalbesteuerungsverfahren.
Zurzeit werden Erträge aus Kapitaleinkünften, abzüglich eines Steuerfreibetrags, mit 25 Pro- zent Kapitalertragsteuer besteuert. Dass Kapitalerträge mitunter begünstigter besteuert wer- den als Einkommen, muss sich ändern. Kapitalerträge sollten genauso wie Einkommen pro- gressiv besteuert werden. Für Personen mit geringem Einkommen – z. B. Studierende oder Auszubildende – lohnt es sich damit künftig, am Kapitalmarkt anzulegen. Die zu erwartenden Steuermehreinnahmen vor allem vermögender Kapitalanleger:innen sollen zur Finanzierung des Chancenbudgets dienen. Zugleich müssen jedoch auch mehr finanzielle Anreize durch at- traktive Marktbedingungen geschaffen werden. Die im Mai 2023 vorgestellte EU-Kleinanle- gerstrategie setzt hier an relevanten Stellen an und wird von uns ausdrücklich begrüßt.
Durch eine gesetzlich veränderte steuerliche Behandlung von Eigenfinanzierungen unter- stützen wir Unternehmen noch besser bei ihren Finanzierungen. Unternehmen in Deutsch- land setzen vor allem auf Fremdfinanzierungen in Form von Bankkrediten, bei denen unsere Banken ein zuverlässiger und sicherer Partner sind. Neben Fremdfinanzierungen können Un- ternehmen auch über Kapitalmärkte finanzielle Mittel generieren. Bei den Eigenfinanzierun- gen werden die Kosten des Aufwands, um an das Kapital zu gelangen, jedoch steuerlich weit- gehend unberücksichtigt. Währenddessen können Unternehmen die Zinsen, die sie für eine Fremdfinanzierung zahlen müssen, steuerlich geltend machen. Es findet somit eine steuerliche Ungleichbehandlung der Eigenfinanzierung gegenüber der Fremdfinanzierung statt, die zu einer Lenkung in Richtung mehr Fremdfinanzierungen führt. Damit wir Unternehmen auch bei ihren Finanzierungen über den Kapitalmarkt unterstützen können, fordern wir eine Gleichstellung der steuerlichen Behandlung von Eigenkapital- und Fremdkapitalfinanzierun- gen. Dies muss europaweit einheitlich erfolgen, da Unternehmen sich nicht nur über Kapital- märkte in Deutschland finanzieren.
Neben den Maßnahmen, die wir in Deutschland tätigen müssen, ist ein weiterer notwendiger Schritt die Schaffung der Europäischen Kapitalmarktunion, gerade auch als Gegengewicht zum starken US-Kapitalmarkt. Der US-Kapitalmarkt umfasste 2020 341,8 Mio. Bürger:innen und ein Bruttoinlandsprodukt von 63.285 US-Dollar pro Kopf. Die Europäische Union hatte 2020 447,9 Mio. Einwohner:innen und ein Bruttoinlandsprodukt von 51.584 Dollar pro Kopf. Auch wenn die Einwohner:innenzahl und das Bruttoinlandsprodukt nicht unermesslich von- einander abweichen, unterscheiden sich die Kapitalmärkte stark. Der amerikanische Kapital- markt zieht aufgrund seiner Größe immer wieder europäische Unternehmen an, die sich dann für einen Börsengang in den USA statt in Europa entscheiden. Der Kapitalmarkt in Europa ist hingegen mit seinen 27 Einheiten mit jeweiligen Börsen, Aufsichten und Gesetzen sehr zer- splittert. Er entfaltet dadurch nicht die Kraft zur Finanzierung neuer innovativer Technologien und zukunftsgerichteter Unternehmen, welche die bevorstehenden Probleme anpacken und neue Arbeitsplätze in Europa und damit Deutschland schaffen könnten. Dabei kann die EU mit seiner Wirtschaftskraft mit den USA mithalten und wäre damit ein realistischer Wettbe- werber zu den USA. Um die europäischen Kapitalmärkte zu stärken, braucht es eine gemein- same Kapitalmarktunion, die einheitlich reguliert ist. Eine aktive Gestaltung der Europäischen Kapitalmarktunion bietet außerdem die Chance, unsere hohen Standards europaweit zu har- monisieren. Die wichtigsten Punkte, um eine Europäische Kapitalmarktunion zu schaffen, sind ein einheitliches Insolvenz-, Vertrags- sowie Gesellschaftsrecht. Besonders im Insolvenz- recht wird dies dringend für eine sichere Planbarkeit benötigt. Denn das Insolvenzrecht be- steht aus vielen unterschiedlichen Bestandteilen, wobei jeder Staat eigene Regelungen für die Beantragung, die Prüfung und die Abwicklung einer Insolvenz hat. Bei Investitionen außerhalb des eigenen bekannten Rechtsraums sorgt dies für erhebliche Unsicherheiten aller Marktteil- nehmer:innen. Einheitliche rechtliche Rahmen sind somit notwendig, um Investoren europa- weit einheitliche Regeln zu garantieren und auch Kleinanleger:innen bei diversifizierten Anla- gen einen europaweiten Verbraucherschutz zu gewährleisten. Die EU-Mitgliedsstaaten haben dies erkannt und im März 2024 weitere Maßnahmen für die Harmonisierung der europäi- schen Kapitalmärkte bekannt gegeben. Die Reformen werden den Kapitalmarkt für alle Betei- ligten attraktiver gestalten: Investoren, Unternehmen und private Anleger:innen. Sie müssen deshalb zügig umgesetzt werden.